(R)auszeit im Mai – Teil II

Was man am 1. Mai machen kann, wenn Corona das Land „lahm“ legt, haben Marina, Ole und ich 2020 schon gezeigt. Die beiden sind die sog. Hermannshöhen abgelaufen – einer von 14 „Qualitäts Fernwanderwegen“ in Deutschland – den sog. Top Trails of Germany und dabei hatte ich sie aus dem Wagen heraus supportet.

Jetzt ist wieder Mai. Sogar der 1. Mai. Welch Zufall 🙂

Samstag morgen 04:44 Uhr – Der Wecker geht. Ich pelle mich aus dem Bett und ich weiß jetzt schon: egal was kommt, es wird cool und aufregend. Erst mal Kaffee und Müsli, mein Equipment für die nächsten Stunden habe ich schon am Vorabend verladen. 

Um 05:30 Uhr sitze ich im Auto um fast pünktlich um 06:45 Uhr unterhalb des Kaiser Wilhelm Denkmals in Porta Westfalica am vereinbarten Treffpunkt zu sein. Treffen werde ich mich mit Marina.

Wir verladen ihre Sachen und Sie in mein Auto und genießen die zweistündige Fahrt zu unserem Startpunkt in Hannov. Münden. Dort, am sog. Weserstein, wo Werra und Fulda zusammen fließen und die Weser beginnt, beginnt auch unser neuestes Top Trails of Germany Abenteuer. Sie will mit meinem VP Support in den nächsten Stunden den Weserbergland Weg laufen: 225km mit +6200hm. Die 13 Teilstrecken haben wir vom gleichnamigen Tourismusverband übernommen.

In der Vorbereitung habe ich mir wieder alle Punkte mit Längen- und Breitengraden heraus gearbeitet mit dem Unterschied, das es eine handschriftliche Spalte gibt, in denen ich die aktuellen Corona Inzidenzen eintrage. Aber der Corona Gott scheint es gut zu meinen: in den Landkreisen, die wir des Nachts passieren, droht uns keine Ausgangssperre. Trotzdem sind wir vorsichtig und haben uns vorher getestet.

Punkt 09:00 Uhr setzt sich Marina am Weserstein in Bewegung. Ab jetzt heißt es: da sein! Am VP sein, geistig da sein, Kummer auf- und abfangen, zusammen lachen und falls es hilft schreien.

Da läuft sie hin…

Ich steuere den ersten VP an und warte auf sie. Per Tracker kann ich immer sehen, wo sie gerade steckt und mich so vorbereiten. Hatte ich erwähnt, das Deutschland immer noch Flecken hat, wo es keinen gescheiten Handy Empfang gibt? Vor 10 Jahren war ich Kenia, die waren da gefühlt schon weiter als wir jetzt. Also weiß ich nicht immer, wo sie gerade ist. Und da keiner so recht die Höhenmeter als Tempobremse einschätzen kann, heißt es für mich einfach warten.

Aber dieses mal bin ich gut vorbereitet: ein gutes Buch habe ich dabei, zwei Filme aufs Handy heruntergeladen und ich will nach jedem VP die Eindrücke kurz tagebuchartig notieren, dann fällt es mir später leichter die Gedanken zu sortieren. 

Das Buch habe ich ungelesen weiter verliehen, einen Film habe ich nach 5 Minuten wieder gelöscht, den anderen nicht gesehen weil meine Augen zu müde waren. Ja, und die Notitzen? Habe ich genau EINE.

Also schreibe ich all meine Gedanken und Erlebnisse so auf, wie sie mir in den Sinn kommen. Es wird eh kein Reiseführer sondern wieder ein Tagebuch der besonderen Sorte.

Fange ich also an:

Samstag morgen 04:44 Uhr – Der Wecker geht. Ich pelle mich aus dem Bett und ich weiß jetzt schon: egal was kommt, es wird cool und aufregend. Erst mal Kaffee…

Eines der wichtigen Dinge: Es ist das WeserBERGland. Ich hätte niemals gedacht, das diese Landschaft so grün, so hügelig und so einsam ist. Fantastische Wälder, urige Dörfer, Straßen die nicht mal Leitpfosten geschweige denn weiße Streifen rechts und links haben. Diese grauen Pisten verlangen dem deutschen Automobilisten alles ab. Kein Schild, das vor eine Kurve warnt, kein Schild, welches die Geschwindigkeit limitiert. Die Straße scheint zu drohen: fahr halt gescheit, dann passiert dir auch nichts.

Ich halte mich an diese Regel. Selten bin ich so gemütlich durch die Lande gerollt, überholt wurde ich immer wieder. Reisen kann so herrlich entschleunigen.

Die Laufetappen sind zwischen 13km und 20km lang, meine Fahrzeit häufig nicht mehr als als 15 Minuten. Ich kann mir also wirklich Zeit lassen. Komme ich später, komme ich halt später. Unterwegs gönne ich mir immer wieder kurze Stopps um zu schauen: Landschaft, abgebrannte Bauernhöfe, verfallene Kirchen. Ich sauge auf und bin im Fluss.

So warte ich also am ersten VP auf Marina die kurz ein Schluck trinkt und weiter läuft. Das war es.

Ich packe den Klapptisch wieder ein, verlade die Getränke und weiter geht es. Die nächsten Stopps (ver-)laufen ähnlich. Alles läuft wie schon so häufig durch erprobt.

Wer nicht mich sich allein sein kann, der ist hier falsch am Platz. Egal, wie kurz oder wie lang die gesamte Tour ist, wer nicht warten kann oder ungeduldig wird, der geht schon nach 6h ein. Nur ich bin mental so stark, das ich so etwas immer locker wegstecke.

…bis auf die Stunden morgens zwischen 1 Uhr und 5 Uhr. Die Kälte krabbelt ganz langsam ins Auto, noch kann ich sie mit der Heizung in Schuss halten, bei Fahrzeiten von 15 Minuten und Standzeiten von mehr als 60 Minuten zieht die Kälte erst durchs Auto und dann das Hosenbein hoch. Müdigkeit kommt noch dazu.

Oder die zwei Stunden vor dem Ende jeder Tour. Sie ziehen sich wie Kaugummi. Das Auto trotz aller Vorkehrungen vermüllt, verschwitzte Sportwäsche, die ausdünstet, der pelzige Geschmack im Mund trotz Zähne putzen. Und noch mehr Müdigkeit kommt dazu.

Ein feiner Multiplikator des ganzen ist Regen. Man kann nicht raus, das Auto beschlägt, nichts wird trocken…

Oder Blödheit: wenn mir z.B. der Topf mit dem fast kochenden Wasser vom Brenner rutscht und ich von neuem beginnen muss.

Ich könnte noch so vieles aufzählen, ich würde es doch gleich wieder tun. Ich liebe es einfach. Ich ziehe meine Energie aus der kurzen Dankbarkeit die ich am VP erhalte und eigentlich weiß ich: ohne mich geht’s irgendwie auch nicht. Auch wenn ich am Ende nicht der Star bin. Mir alles egal, ich werkel eh lieber im Hintergrund, das war schon immer mein Ding.

Zurück zum nächsten VP.

Gegen Mittag fahre ich den ersten größeren Ort an. Alles klar: die Pizzeria hat offen, der Eismann daneben auch. Ich funke kurz durch und Marina wünscht sich Fanta oder Eistee und Pizzabrötchen. Kein Problem.

Der Eismann bietet verrückte Sorten: Merlot, Chardonnay, Apfel Ingwer, Mango Chili. Ich wandle mein Hartgeld in feinste Sorbetsorten, sitze in der endlich durchbrechenden Sonne auf einer Parkbank mit Blick auf die Weser. Herrlich. Mehr (Eis) braucht kein Mensch.

Da ich nachts eigentlich die Radbegleitung bin, krame ich erstmals mein ausgeliehenes vollgefedertes Mountainbike aus dem Auto und fahre Marina entgegen. Wir treffen uns und sie fängt gleich an zu quasseln, Alleine laufen über so viel Stunden ist mental schon deswegen anstrengend, weil man positive wie negative Ereignisse nicht teilen kann. Ich lasse sie erzählen. Wir freuen uns, uns zu sehen.

Sie „ext“ vor meiner Nase quasi den ganzen Liter Fanta, und wundert sich lautstark darüber, wie viel Durst sie dieses mal hat. Wir überlegen, wie das in der nächsten Nacht gehen soll, geplant sind großzügige 60km meinerseits, so viel kann ich gar nicht transportieren.

Es geht weiter…

Am späten Nachmittag erreiche ich einen VP, der einem VP wirklich würdig ist: ein mobiler Pommeswagen steht auf einem Wanderparkplatz. Ich radele Marina ein wenig entgegen, die Strecke ist verwurzelt und rumpelig. Aber dank des Trackers brauche ich nicht all zu sehr lange um sie aufzugabeln. Ich erzähle Marina von der Pommesbude und ob sie sich was wünsche: Capri Sonne schallt es durch den Wald. OK! Ich fahre vor und tatsächlich: kalte Capri Sonne zum kleinen Preis. Ich ordere gleich vier Getränketüten.

Ein Wort zu Capri Sonne: Ja, es ist Zuckerwasser in einer für die Umwelt ganz miesen Verpackung. Aber hey: es ist CAPRI SONNE! Capri Sonne hat den diesen besonderen Spirit wie ihn Schaumküsse oder die Kekse von Omma auch haben. Du kannst dich als Kind noch so verletzt haben, bist gefühlt aus dem 120sten Stockwerk gefallen und hirntot. Schon das Geräusch des Schlüssels im Schloss des Schränkchens mit dem Süßkram war wie eine Reanimation. Nebenbei ist Capri Sonne Zuckerwasser (und Zuckerwasser ist Energie) in einer quasi unzerstörbaren nicht gluckernden Verpackung. Wer auf einsamen Touren von seiner im Rhythmus der Schritte gluckernden Trinkflasche malträtiert wird, weiß wo von ich rede.

Ich erlebe hier meine wirklich ersten Erlebnisse mit einem richtigen Moor. Der Weg geht auf schmalen Holzplanken durch den schwarzen Modder, ich begleite Marina noch ein wenig auf ihrer nächsten Etappe. Hammer! Neben und unter mir sind Stellen, wo ich lieber nicht reinfallen möchte. Konzentration ist also gefragt um mit dem breiten Lenker nicht am einseitigen Holzgeländer hängen zu bleiben und für immer zu verschwinden…

Am nächsten VP verfassen wir den Plan, das vielleicht einer unsere Freunde uns nachts supporten könnte. Einer der Christophs (Hardes) kann wirklich zu uns kommen und wir verabreden uns abends gegen 21 Uhr an einem VP. Unser Plan derweil: ich radel Marina entgegen, so das sie abends nicht allein unterwegs sein muss.

Schrieb ich radeln? Ich meinte schieben: WeserBERGland. +370Hm auf 4km feinster Single Trail im Dunkeln. Den Plan der Radbegleitung können wir wohl knicken. Ich schiebe Marina also wie versprochen entgegen und erbitte gleich Absolution. So bin ich mehr Last als Hilfe. Im Nachhinein stellt sich diese Entscheidung als vollkommen richtig heraus. Von Christoph und Marina höre ich später, das nur wenige Teilstücke entspannte Waldautobahn sind, es gibt Treppen und Äcker, Singletrails und Wiesen.

Christoph (Hardes) supportet somit Marina, Christoph (Wurm) ist mein Mann im back office, der spät abends und früh morgens einfach anruft und fragt, wie es so ist. Klasse und vielen Dank euch beiden!

Nun ist sie also da, die Nacht. Zwischen dem Chaos im Auto versuche ich auf der Isomatte ein wenig zu schlafen, doch jedes Bing des Handys lässt mich aufschrecken. Brauchen die beiden etwas? Nein – Fehlalarm.

Ich stehe in einem Kaff unter einer Straßenlaterne und mache morgens um 3 Uhr heißen Kakao. Was für ein Bild. Sollte das Ordnungsamt jetzt doch Streife fahren, hätte ich zumindest was zu erzählen. Aber: der erste Vogel piept und zwitschert dazu. Gänsehaut Momente pur. Die beiden laufen auf mich auf, wärmen sich kurz am Kakao und verordnen sich 6 Minuten Powernap.

Stille.

Ich laufe auf dem Gehweg auf und ab und warte die Minuten herunter. Nach fünf Minuten geht die Tür schon wieder auf und die beiden klettern heraus. Nun geht’s weiter.

Ich trinke den Rest Kakao, packe zusammen und fahre auch.

Am nächsten VP schaffe ich es wirklich einzuschlafen. Trotz kalter Füße. Als ich wieder wache werde, dämmert es. BAMM!! Es dämmert. Die Nacht ist geschafft. Für die beiden. Und für mich. Endlich, ich kann wieder durchstarten. Ein neuer Tag bringt gleich wieder neue Energie.

Ich versuche Marina und Christoph zu versorgen, doch all die feinen hochkalorischen Leckereien sind gerade nichts. That´s the game. Sie ziehen von dannen mit jeweils einem Schälchen heißem Grießbei. Die Löffel bekomme ich am nächsten VP in die Hand, wo die beiden nochmals kurz ausruhen.

Gegen Vormittag kommt Daniel auch noch zu uns. Daniel hat sich bereit erklärt die letzten Etappen mitzulaufen.

Er läuft den beiden entgegen und circa 30 Minuten kommen die drei in Corona konformen Abstand entgegen. Es ist toll wenn der neue Mann im Spiel neuen Schwung in die Manschaft bringt. Und genau das klappt. Gut gelaunt und laut lachend kommen die drei auf mich zu, aus dem Bluetooth Lautsprecher plärrt ein 1990er Klassiker. Party auf dem Wanderparkplatz. Das scheint vielen der Wanderer nicht geheuer zu sein..

Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, welch Dynamik und positive Energie ein einzelner Mensch in eine Gruppe bringen kann.

Wir sollten uns alle dieses Beispiels erinnern und gut gelaunt an eine Gruppe treten, Und wenn es nur beim Bäcker ist oder ein kurzes fröhliches Gespräch an der Tankstelle. Viel zu oft haben wir (auch ich) unsere Scheuklappen auf.

So vergeht der weitere Vormittag relativ unspektakulär.

Auf dem Weg zum vorletzten VP komme ich an einer richtigen Tankstelle vorbei. So weit ich auch die letzten Stunden gefahren bin, eine richtige große Tankstelle war bisher nicht dabei. Ich setze den Blinker, halte an und rufe meine Leute an, ob sie einen Wunsch hätten. Die Antwort: Wassereis!!! Für mich einen schönen heißen Kaffee und vier mal Wassereis. Schlafsäcke sind übrigens ideal zum kalt halten von Speisen und so genießen wir eine dreiviertel Stunde später Eis.

Und dann kommt dieser feierliche Moment. Das letzte Teilstück wird in Angriff genommen. Allen ist bewusst das es klappen könnte und Marina den Weserbergland Weg stemmen kann. Wow!

Ich fahre mit Gänsehaut los. Bin aufgeregt, müde und nochmal aufgeregt. Am Zielort mag die Zeit nicht vergehen doch nach etwa 31,5h laufen die drei auf mich auf. Aus der Bluetooth Box plärrt „Giant“ von Rag´N´Bon Man. Diese Momente kann man nicht beschreiben. Marina wird ihren Triumph ganz anders empfinden, als ich ihren. Anders herum genau so. Ich habe meinen Job gemacht, sonst hätte sie es nicht geschafft. Einfach Wahnsinn.

Das war es? Nein sicher nicht. Es ist so schwer die passenden Worte zu finden. Ich könnte süßem Honig sprechen, von Morgentau an einem Blatte. Aber nichts beschreibt den Moment so, wie er es sich dargestellt hat. Mit allen Höhen und Tiefen, die man durchlebt hat. Dazu bin ich leider zu wenig Sprach Poet. Vielleicht hilft es zu erklären, das wir, die wir bei diesen „Projekten“ dabei waren ein oder zwei Tage später all unsere Alltagsbruchlandungen erleben, wir uns in den Stunden des gemeinsamen „Quälens“ in einer anderen Zeit befunden haben und jetzt erst wieder Fuß fassen müssen. So kaputt man auch ist, man kann nur sagen: GEIL WARS!!!!!

Und so stehen wir noch ein paar Minuten zusammen trinken müde und zufrieden noch ein alkoholfreies Finisher Bier und dann geht es schon heim. Dieses Gefühl etwas richtig cooles geleistet zu haben, wird erst in den nächsten Tagen kommen.

Ich verarbeite diese Gedanken gern in meinen Blog. So habe ich später tolle Erinnerungen von meinen Lauferlebnissen.

Ein kurzes Wort noch an und über die hier aufgeführten Personen:

der „große“ Unbekannte: Stefan, Du hast ohne mit der Wimper zu zucken dein teures Mountainbike verliehen. Und ich habe viele Leute gefragt und durch die Bank Absagen bekommen. Danke dir!

Danke Daniel fürs „Mental Rakete“ zünden. Du warst zur rechten Zeit am rechten Ort! Schön, das du da warst.

Danke Christoph fürs „den Supporter supporten“. Mit Dir zu telefonieren ist immer großer Spaß und du kennst genau die Supporter Schrauben, die gedreht werden müssen.

Danke Christoph fürs ewig weite(r) mitlaufen. Respekt! Du bist ein Beißer aber pass auf dich auf!

Und Danke Marina – du weißt schon warum….

Und by the way:

Heute ist der 4. Mai – also noch 361 Tage….